Pianist, Dirigent, Forscher, Sammler, Pädagoge – für Jos Van Immerseel bedeutet die Arbeit das Leben und dieses Leben gehört der Musik. Seine viel gerühmten historischen Aufführungen beruhen auf einem ständigen Dialog zwischen der Musikwissenschaft und der Praxis. Oder, wie Goethe vor fast zweihundert Jahren schrieb:

Wer das Dichten will verstehen
Muss ins Land der Dichtung gehen;
Wer den Dichter will verstehen
Muss in Dichters Lande gehen.

Jos Van Immerseel ist ein leidenschaftlicher Sammler und Forscher.
Im Laufe der Jahre trug er eine eindrucksvolle, für die Klaviermusik von 1700 bis Anfang des 20. Jahrhunderts repräsentative Sammlung historischer Cembalos und Konzertflügel zusammen. Anhand dieser Instrumente untersucht er systematisch die historische Beziehung zwischen der Komposition, dem Instrument und der erforderlichen Spieltechnik. Mit Hilfe der besten europäischen Restauratoren, Klavierstimmer und Techniker sowie spezialisierter Transportfirmen verzaubert er ein Publikum von Tokio bis Oslo mit der jeweils zeitgenössischen Klangfarbe der klassischen, der romantischen und der impressionistischen Instrumente, die er immer wieder in einen historisch fundierten und um Zeitgenössisches bereicherten Kontext stellt. Dabei geht Jos Van Immerseel ausgesprochen kompromisslos vor: Vor einem Konzert oder einer Studioaufnahme sucht er aus seiner Sammlung das jeweils am besten geeignete Instrument aus und nimmt es mit, so dass sowohl das Publikum im Konzertsaal als auch der Musikliebhaber, der sich seine CDs anhört, die charakteristischen und einzigartigen Klangfarben des historischen oder sorgfältig nachgebauten Instruments erfahren kann.

Von besonderer Bedeutung für Van Immerseels Hinwendung zu historischen Instrumenten waren zwei Cembalos aus dem Antwerpener Kunsthandwerk-Museum Vleeshuis: die Instrumente von Ioannes Dulcken (1747) und von Conrad Graf (1826). Ebenso wichtig waren seine Kontakte mit Kollegen wie René Jacobs, den Brüdern Kuijken, Jaap Schröder, Anner Bijlsma, Paul Van Nevel, Guy de Mey oder Paul Dombrecht.

Bereits in den ersten Jahren seiner Laufbahn als Pianist erhielt Jos Van Immerseel hohe Anerkennung als außergewöhnlicher „A prima vista“-Spieler, so unter anderem beim Internationalen Musikwettbewerb „Klavierspiel vom Blatt“ des Bayerischen Rundfunks (München, 1963). Seine vielfältigen Begabungen (Van Immerseel ist auch ein virtuoser Klavierstimmer) und seine Liebe zur Orgel- und Vokalmusik führten schließlich zur Hinwendung zur Alten Musik und ihren kaum oder noch gar nicht gehobenen Schätzen. Van Immerseels erstes eigenes Ensemble Collegium Musicum (1964-1968) erregte vor allem durch einige erfolgreiche Experimente auf alten Instrumenten im Rahmen des Renaissance- und Barockrepertoires Aufsehen. Er setzte seine Untersuchungen mit dem Studium des historischen Cembalos fort (eine Ausbildung bei Kenneth Gilbert schloss er 1973 mit Prädikatsexamen und Beifall der Jury ab). Beim ersten Cembalo-Wettbewerb von Paris von 1973 wurde er einstimmig zum Sieger gekürt und gewann außerdem den Publikumspreis. Als einziger Kandidat hatte er sich konsequent für das historische Cembalo entschieden, ein Instrument von Ruckers-Taskin aus dem Jahr 1780, wodurch er einen neuen Trend in der französischen Cembalo-Schule lancierte.

Als Solist genießt Jos Van Immerseel sowohl durch seine Konzerte als auch durch seine Aufnahmen internationale Anerkennung. Seine Solo-Aufnahmen wurden durch eine Reihe renommierter Preise gewürdigt, darunter der Diapason d‘Or, Le Choc du Monde de la Musique und FFFF de Télérama.

Als Dirigent konzentrierte Jos Van Immerseel sich bis ca. 1985 auf die Barockmusik. 1977 dirigierte er die inzwischen legendäre Aufführung der Monteverdi-Oper „L‘Orfeo“, an der zahlreiche, mittlerweile berühmte Barock-Spezialisten mitwirkten. In den achtziger Jahren dirigierte er häufig das Radio-Kamerorkest, das Nederlands Kamerorkest und den Nederlands Kamerkoor. Jedoch erweiterte er seine Untersuchungen bald auf die klassische, die romantische und die impressionistische Musik.

Er konzentrierte sich immer mehr auf die historische Aufführungspraxis und beschäftigte sich intensiv mit der Anwendung der Rhetorik in der Musik. Als Dirigent von Anima Eterna, das er 1987 gründete, vertiefte er alle Erkenntnisse, die er während seiner bisherigen Laufbahn gewonnen hatte. Heute ist Anima Eterna nicht mehr aus der Szene der epochengetreuen Aufführung wegzudenken.
Auch als Musikpädagoge ist Jos Van Immerseel eine international anerkannte Kapazität. Er war längere Zeit Professor am Conservatoire National Supérieur von Paris und Gastdozent an der Scola Cantorum Basiliensis. Von 1982 bis 1985 war er zusammen mit Ton de Leeuw künstlerischer Leiter des Sweelinck-Conservatorium Amsterdam. Konservatorien und Musikhochschulen in Europa, den USA und Japan laden Jos Van Immerseel regelmäßig ein, um Meisterklassen oder Seminare zu leiten. Seit 1995 veranstaltet die Philharmonische Vereinigung von Brüssel jährlich einen Konzertzyklus um Jos Van Immerseel. Einige Jahre lang war Anima Eterna ständiges Gastorchester am Brüsseler Kaaitheater. Seit 2003 ist Anima Eterna “Orchester in Residenz” des Concertgebouw in Brügge.

Als Solist, Berater und Dirigent wirkte Jos Van Immerseel inzwischen an rund hundert LPs und CDs unter anderem der Labels Accent, Channel Classics und Sony mit. Seit 2002 leitet er die Aufnahmen zur „Collection Anima Eterna“ der Pariser Plattenfirma Zig-Zag Territoires. Sämtliche Aufnahmen erfolgen ausschließlich mit historischen Instrumenten.

Die Leidenschaft Jos Van Immerseels für die historische Aufführungspraxis brennt in unverminderter Stärke. Auf der Bühne und in Studios wird er in den nächsten Monaten und Jahren Werke von Beethoven, Berlioz, Poulenc, Debussy, De Falla, Messiaen und anderen spielen und dirigieren. Und dabei immer wieder „ins Land der Dichtung“ und „in Dichters Lande“ zurückkehren.